Eine etwa 130 Jahre alte Rosskastanie beim Schulhaus St. Georgen in Winterthur zeigt im Herbst ein ungewöhnliches Phänomen: Sie blüht erneut. Obwohl dies auf den ersten Blick schön aussieht, ist es ein deutliches Zeichen für extremen Stress, der den Baum an den Rand seiner Existenz bringt.
Die erneute Blüte im Herbst ist eine sogenannte stressinduzierte Reproduktionsstrategie. Der Baum versucht damit, als letzten Ausweg noch Samen zu produzieren, um sein Überleben zu sichern.
Wichtige Erkenntnisse
- Eine Rosskastanie in Winterthur blüht im Herbst erneut, was ein Zeichen von grossem Stress ist.
- Die Rosskastanien-Miniermotte ist die Hauptursache für die Schwächung des Baumes.
- Die Notblüte ist eine letzte Reproduktionsstrategie, die den Baum zusätzlich belastet.
- Ob der Baum überlebt, hängt von seiner Widerstandsfähigkeit und möglichen Hilfsmassnahmen ab.
Ungewöhnliche Blüte im Herbst
Direkt neben dem Schulhaus St. Georgen in Winterthur, nahe dem Hauptbahnhof, bietet sich derzeit ein seltenes Bild. Eine alte Rosskastanie, deren Blätter bereits braun und welk sind, trägt an einigen Ästen frisches grünes Laub und sogar weisse Blüten. Dies ist bemerkenswert, da Rosskastanien normalerweise im Frühling blühen.
Laut dem städtischen Baumkataster wurde dieser Baum im Jahr 1895 gepflanzt. Er steht zwischen dem Schulhaus und den Bahngeleisen und ist ein fester Bestandteil des lokalen Stadtbildes.
Wissenswertes über Rosskastanien
- Alter: Die Kastanie in Winterthur ist etwa 130 Jahre alt.
- Herkunft: Rosskastanien stammen ursprünglich aus Südosteuropa.
- Blütezeit: Normalerweise blühen Rosskastanien im Frühling.
Diagnose: Stressinduzierte Reproduktionsstrategie
Arthur Gessler, Baumphysiologe und Leiter der Forschungseinheit Wald- und Bodenökologie an der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL), erklärt das Phänomen. Er diagnostiziert eine «stressinduzierte Reproduktionsstrategie». Dies bedeutet, dass der Baum unter so grossem Druck steht, dass er versucht, sich auf Biegen und Brechen fortzupflanzen.
«Der Baum interpretiert den extremen Stress als existenzielle Bedrohung und investiert Reserven in eine finale Reproduktionschance», so Gessler.
Die Rolle der Rosskastanien-Miniermotte
Der Hauptauslöser für diesen Stress ist oft ein kleiner Schmetterling: die Rosskastanien-Miniermotte. Ihre Larven fressen sich durch die Blätter, was dazu führt, dass diese bereits im Sommer welken, braun werden und vorzeitig abfallen. Ist der Befall stark, wird die Fotosynthese des Baumes drastisch reduziert.
Dies hat zur Folge, dass der Baum weniger Nährstoffe aufnimmt und dadurch geschwächt wird. Er leidet quasi an Hunger. Diese Schwächung löst den extremen Stress aus, der zur Notblüte im Herbst führt.
Hintergrund zur Miniermotte
Die Rosskastanien-Miniermotte (Cameraria ohridella) stammt, genau wie die Rosskastanie selbst, ursprünglich aus Südosteuropa. In anderen Teilen Europas, einschliesslich der Schweiz, gilt sie als invasive Insektenart. Sie begann sich in den 1980er-Jahren in Europa auszubreiten und ist seit Ende der 1990er-Jahre auch in der Schweiz präsent.
Das Insekt bildet pro Jahr bis zu drei Generationen aus. Ein stark befallener Baum kann dadurch erheblich geschwächt werden.
Auswirkungen auf den Baum
Die Notblüte ist ein verzweifelter Versuch des Baumes, über die Produktion von Blüten nochmals Früchte zu bilden. Ziel ist die Erzeugung keimfähiger Samen. Allerdings ist diese Strategie in der Regel kontraproduktiv. Sie belastet den bereits geschwächten Baum zusätzlich.
Die im Herbst gebildeten Blüten produzieren zudem in den meisten Fällen keine keimfähigen Samen. Die Energie, die der Baum dafür aufwendet, fehlt ihm an anderer Stelle. Dies macht ihn anfälliger für weitere Stressfaktoren wie Krankheiten oder lange Trockenperioden.
Überlebenskampf und Hilfsmassnahmen
Die Frage, ob die blühende Rosskastanie in Winterthur ein letztes Aufbäumen vor dem Ende oder ein Zeichen ihrer Widerstandsfähigkeit ist, bleibt offen. Fachleute betonen, dass die Miniermotte als Stressfaktor akzeptiert werden muss. Es gibt jedoch Möglichkeiten, den Bäumen zu helfen.
Insbesondere in langen Trockenperioden kann eine gezielte Bewässerung die Bäume unterstützen. Dies hilft ihnen, die notwendigen Nährstoffe aufzunehmen und ihre Widerstandsfähigkeit zu stärken. Eine solche Massnahme kann entscheidend sein, um das Überleben stark befallener Bäume zu sichern.
- Bewässerung: In Trockenphasen ist zusätzliche Wasserzufuhr wichtig.
- Artenwahl: Rotblühende Rosskastanien sind weniger anfällig für die Miniermotte.
- Alternative: Edelkastanien werden von der Miniermotte gar nicht befallen.
Die kommenden Jahre werden zeigen, ob die Rosskastanie am Schulhaus St. Georgen ihren Überlebenskampf gewinnen kann. Ihr ungewöhnlicher Anblick im Herbst dient als Mahnung für die Herausforderungen, denen Stadtbäume in unserer modernen Umwelt gegenüberstehen.





