Tagsüber unterrichtet Felix als Sonderschullehrer, doch an den Wochenenden verwandelt er sich in die schillernde Dragqueen Amélie Putain. Bei der dritten Winterthurer Drag Night im ausverkauften Kulturzentrum Gaswerk gewährte der 29-Jährige einen Einblick in seine aufwendige, dreistündige Metamorphose und die Kunstform, die für ihn weit mehr als nur Unterhaltung ist.
Das Wichtigste in Kürze
- Felix, ein 29-jähriger Sonderschullehrer aus Winterthur, tritt als Dragqueen Amélie Putain auf.
- Seine Verwandlung von Felix zu Amélie dauert rund drei Stunden und ist ein meditativer Prozess.
- Die Kunstfigur verbindet glamouröses Cabaret mit scharfer politischer Satire, unter anderem mit einer Parodie auf die AfD-Politikerin Alice Weidel.
- Trotz des Erfolgs als Drag-Künstlerin behält Felix seinen Beruf als Lehrer für die finanzielle Sicherheit und den Kontrast zum Bühnenleben.
Ein Mann, zwei Identitäten
Auf den ersten Blick wirkt Felix unscheinbar. Mit beiger Hose und brauner Brille trägt er seinen Rollkoffer die Treppen zum Kulturzentrum Gaswerk hinauf. Wenige Stunden später wird derselbe Mann als glamouröse und provokante Amélie Putain die Bühne betreten und das Publikum begeistern. Felix ist einer von sieben Drag-Künstlern, die an der ausverkauften dritten Winterthurer Drag Night auftreten.
Für den gebürtigen Thurgauer, der seit fünf Jahren in Winterthur lebt, ist es ein Heimspiel. Der 29-Jährige führt ein bewusst gewähltes Doppelleben. Unter der Woche widmet er sich seiner Arbeit als Sonderschullehrer, am Wochenende lebt er seine Leidenschaft für die Drag-Kunst aus.
Der Aufstieg der Drag-Kultur
Drag, die Kunstform, bei der meist Männer in einer überzeichneten Weiblichkeit auftreten, hat in den letzten Jahren durch Sendungen wie "RuPaul's Drag Race" einen weltweiten Hype erlebt. Längst ist Drag mehr als nur Verkleidung; es ist eine anerkannte Kunstform, die Performance, Schauspiel, Mode und oft auch politische oder soziale Kommentare vereint.
Die Entstehung von Amélie Putain
Felix' Faszination für Drag begann während seiner Gymnasialzeit, als er auf YouTube auf die Kunstform stiess. Das Spiel mit Geschlechterrollen fesselte ihn sofort. "Mein erster Versuch mit dem Make-up und den Kleidern meiner Mutter war echt scheisse", erinnert er sich lachend. Heute sei die Inspiration durch soziale Medien riesig.
Der Name seiner Kunstfigur ist eine Hommage an den Film "Die wunderbare Welt der Amélie". Der provokante Nachname "Putain", das französische Wort für "Schlampe", ist eine bewusste Abwandlung des Originalnamens "Poulain". "Es gab schon Leute, die meinten, ich heisse Amélie Putin", erzählt er amüsiert über die Verwechslungen.
Die dreistündige Verwandlung im Detail
Die Metamorphose von Felix zu Amélie ist ein präziser und zeitaufwendiger Prozess, der rund drei Stunden dauert. In der Garderobe vor einem grossen Spiegel beginnt die Verwandlung, die für Felix eine meditative Qualität hat.
Zuerst wird das Gesicht grundiert. Anschliessend formt er mit einem dunklen Contouring-Stift seine Gesichtszüge neu, um beispielsweise die Nase schmaler wirken zu lassen. Die Farben des Make-ups sind intensiv und kräftig aufgetragen. "Das Bühnenlicht schluckt 70 Prozent der Wirkung des Make-ups", erklärt er. Jeder Pinselstrich muss sitzen, um aus der Ferne die gewünschte Wirkung zu erzielen.
Make-up für die Bühne
Das sogenannte "Stage Make-up" unterscheidet sich stark von Alltags-Make-up. Es erfordert eine hohe Deckkraft, starke Pigmentierung und extreme Haltbarkeit, um unter heissen Scheinwerfern nicht zu verlaufen. Techniken wie Contouring und Highlighting werden überzeichnet, um Gesichtszüge auch für die hintersten Reihen sichtbar zu machen.
Schicht für Schicht entsteht das Gesicht von Amélie. Dramatischer Lidschatten, perfekt gezogene Augenbrauen und schliesslich die Lippen. Felix bereitet sich bewusst am Veranstaltungsort vor. Es sei nicht nur bequemer, sondern auch sicherer. Obwohl er bisher kaum negative Erfahrungen in der Öffentlichkeit gemacht hat, möchte er seine Kunstfigur vor Anfeindungen schützen. "Amélie ist mir zu wichtig, als dass ich Negatives mit ihr verbinden will", sagt er. "Alles, was Amélie ausmacht, kommt irgendwo tief aus mir."
Mehr als nur Glitzer: Drag als politische Bühne
Amélies Auftritte sind vielfältig. Eine ihrer Nummern ist eine Hommage an das klassische Cabaret, bei der sie Cole Porters "Anything Goes" singt. Doch ihre Kunst geht tiefer. Eine andere Performance ist eine scharfe politische Satire, in der sie die rechtspopulistische AfD-Politikerin Alice Weidel parodiert.
"Ernste Themen wie Rechtsextremismus und Fake News anzusprechen und Persönlichkeiten durch den Kakao zu ziehen, auch das sei Drag", betont Felix.
Für diese Nummer unterlegt er den Song "Liar" von Silia Kapsis mit originalen Aussagen von Weidel. Damit nutzt er seine Plattform, um auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam zu machen und sein Publikum zum Nachdenken anzuregen. Die Kombination aus Unterhaltung und Kritik ist ein zentrales Element seiner Arbeit.
Zwischen Schulalltag und Showbühne
Obwohl Felix inzwischen von seiner Kunst leben könnte, hat er sich bewusst dafür entschieden, seinen Vollzeitjob als Sonderschullehrer beizubehalten. "Ich bin halt ein Spiesser und brauche eine gewisse Sicherheit", gibt er zu. Doch es ist mehr als nur das Finanzielle. Er liebt den Kontrast zwischen seinen beiden Welten.
"Am Freitag ein Elterngespräch, am Samstag eine Show mit Drag, Burleske und Varietékunst und am Montagmorgen dann wieder vor der Klasse", beschreibt er seinen Wochenablauf. Nachdem das Make-up sitzt, schlüpft er in sein Kostüm: eine blonde Langhaarperücke, Strumpfhosen und ein enges Korsett. "Das Leben eines Showgirls ist schon echt anstrengend", seufzt er theatralisch.
Ein kurzer Schreckmoment ereignet sich, als der Reissverschluss seines glitzernden Bodysuits klemmt. Doch die Solidarität in der Drag-Community ist gross. Die Kolleginnen Milky Diamond und Agyness Champagne eilen zur Hilfe und lösen das Problem nach wenigen Minuten. Kurz darauf ist Amélie Putain bereit für die Bühne – als glamouröse Entertainerin und als scharfsinnige politische Kommentatorin.





