Angesichts eines drohenden Hausärztemangels in der Schweiz startet im Glattzentrum ein Pilotprojekt, das die Rolle von Apotheken neu definieren soll. Eine umgebaute Amavita-Filiale fungiert ab sofort als erste Anlaufstelle für Patienten mit leichteren Beschwerden, um die überlasteten Arztpraxen zu entlasten.
Das Konzept sieht vor, dass Apothekerinnen und Apotheker erweiterte Beratungs- und Behandlungsaufgaben übernehmen, von der Impfung bis zur Betreuung chronisch kranker Patienten. Doch während die Befürworter eine Effizienzsteigerung im Gesundheitswesen sehen, äussern Ärzteverbände Bedenken hinsichtlich der Qualität.
Das Wichtigste in Kürze
- Ein Pilotprojekt im Glattzentrum testet die Apotheke als erste Anlaufstelle für Patienten.
- Bis 2035 müssen in der Schweiz 40 Prozent der praktizierenden Hausärzte ersetzt werden.
- Das neue Konzept umfasst diskrete Beratungszonen und erweiterte Dienstleistungen wie Impfungen.
- Ärzteverbände sehen die Entwicklung kritisch und bezweifeln eine tatsächliche Entlastung.
Ein System am Limit
Die Schweiz steht vor einer grossen Herausforderung in der medizinischen Grundversorgung. Eine Studie des Universitären Zentrums für Hausarztmedizin der Universität Basel zeichnet ein düsteres Bild: Bis zum Jahr 2035 muss die Schweiz 40 Prozent aller heute praktizierenden Hausärztinnen und Hausärzte ersetzen.
Die Gründe für diesen Engpass sind vielfältig. Das Durchschnittsalter der Hausärzte liegt bei 52 Jahren, was bedeutet, dass viele in den nächsten Jahren in den Ruhestand gehen werden. Gleichzeitig arbeiten nachrückende Mediziner häufiger in Teilzeit, um eine bessere Work-Life-Balance zu erreichen. Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit ist in den letzten 20 Jahren von 50 auf 42 Stunden gesunken.
Dieser Trend trifft auf eine wachsende Bevölkerung, die kürzlich die Marke von neun Millionen überschritten hat. Die Lücke in der Versorgung wird grösser, und die Wartezeiten für einen Arzttermin länger.
Das Kostendämpfungspaket 2
Als Reaktion auf den drohenden Versorgungsengpass und steigende Gesundheitskosten hat das Parlament im März dieses Jahres das „Kostendämpfungspaket 2“ verabschiedet. Eine zentrale Massnahme darin ist die Stärkung der Rolle von Apotheken. Sie sollen als niederschwellige erste Anlaufstelle für akute, aber leichtere Beschwerden etabliert werden, um Notaufnahmen und Hausarztpraxen zu entlasten.
Die Apotheke der Zukunft im Glattzentrum
Wie diese neue Rolle konkret aussehen kann, zeigt seit Samstag die Amavita-Apotheke im Erdgeschoss des Glattzentrums. Nach einem zehnwöchigen Umbau präsentiert sie sich in einem völlig neuen Design, das auf Beratung und Diskretion ausgelegt ist.
„Wir möchten eine hybride Beratung anbieten“, erklärt Patrick Eder, der beim Gesundheitsunternehmen Galenica für das Kundenerlebnis verantwortlich ist. Die klassische Verkaufstheke, die eine Barriere zwischen Personal und Kunden schafft, wurde abgeschafft. „Sie ist nicht mehr zeitgemäss, da sie wenig Privatsphäre bietet und somit kaum Möglichkeiten für eine echte Gesundheitsberatung lässt“, so Eder.
Stattdessen gliedert sich der Raum nun in verschiedene Zonen:
- Ein vorderer Bereich mit Selbstbedienungsprodukten und Expresskassen für schnelle Einkäufe.
- Vier halbprivate Beratungszonen, in denen Gespräche vor den Blicken und Ohren anderer Kunden geschützt sind.
- Ein vollständig abgetrennter, blickdichter Beratungsraum für sensible Anliegen und Dienstleistungen.
Mehr als nur Medikamente abgeben
Das Ziel ist klar: Die Apotheke soll nicht mehr nur ein Ort sein, an dem Rezepte eingelöst werden. „Diese Beratungszonen bieten eine erste Anlaufstelle für gesundheitliche Beschwerden und Fragen dazu“, sagt Daniele Madonna, Mitglied der Geschäftsleitung von Galenica und selbst Apotheker.
Als Beispiel nennt er eine unkomplizierte Harnwegsinfektion bei Frauen. „In den meisten Fällen muss man dafür nicht zum Arzt. Apothekerinnen und Apotheker sind nach ihrem fünfjährigen Studium so ausgebildet, dass sie eine solche schnell und ohne Hausarzt behandeln können“, erklärt Madonna.
Erweiterte Kompetenzen für Apotheker
Bund und Kantone haben die Befugnisse von Apothekern in den letzten Jahren schrittweise erweitert. Im Kanton Zürich dürfen sie seit diesem Jahr Impfungen durchführen. Mit dem neuen Kostendämpfungspaket können diese Leistungen nun auch direkt über die Krankenkasse abgerechnet werden, was bisher einen Arztbesuch erforderte.
Geplant ist, das Angebot weiter auszubauen. Ein mögliches Feld ist die Betreuung von Patienten mit Bluthochdruck. „Die Medikamente dafür sind rezeptpflichtig, die Patientinnen und Patienten müssen also sowieso in die Apotheke“, so Madonna. Künftig könnte das Fachpersonal dort Aufgaben wie die Blutdruckkontrolle und die Überprüfung der Medikation übernehmen. „Dadurch hätten die Hausärztinnen und Hausärzte dann mehr Zeit, um sich um jene Fälle zu kümmern, die explizit ihr medizinisches Fachwissen erfordern.“
Ärzteschaft äussert Bedenken
Während die Politik und der Apothekerverband grosse Hoffnungen in das neue Modell setzen, bleibt die Ärzteschaft skeptisch. Die Ärztegesellschaft des Kantons Zürich (AGZ) beobachtet die Entwicklung kritisch, insbesondere was die Qualität der Versorgung betrifft.
„Die jahrelange Ausbildung eines Arztes oder einer Ärztin kann einem Pharmaziestudium nicht gleichgesetzt werden, weshalb die Patientinnen und Patienten letztlich doch meist einen Arzt aufsuchen müssen. Somit kann man kaum von einer Entlastung der Ärzteschaft sprechen.“
Mirjam Benaiah-Olstein, Kommunikationsspezialistin der AGZ
Man sei sich der Engpässe bewusst, setze aber auf andere Lösungen wie mehr Studienplätze und Tarifanpassungen. Einer effizienten Zusammenarbeit mit den Apotheken stehe man jedoch offen gegenüber.
Gefahr von Fehldiagnosen?
Auch Peter Wespi, Hausarzt und Vorstandsmitglied der Ärztegesellschaft des Zürcher Unterlands, sieht das Konzept nicht als Allheilmittel. „Die Apotheken waren schon immer eine gute Anlaufstelle für leichtere Erkrankungen“, sagt er. „Bei den meisten schwerwiegenden Erkrankungen kann eine Apotheke aber die medizinische Fachkompetenz zur Einleitung einer gezielten Diagnostik und Therapie nicht anbieten.“
Er warnt zudem vor möglichen Folgekosten. Wenn komplexe Krankheitsbilder wie Bluthochdruck ohne umfassende ärztliche Diagnostik behandelt werden, könnten zugrunde liegende Ursachen übersehen werden. „Das verursacht dann später zusätzliche Kosten“, so Wespi. Zur Lösung des Hausärztemangels fordert er stattdessen die Abschaffung des Numerus clausus und weniger Bürokratie im Arztberuf.
Die Filiale im Glattzentrum ist die erste, die Galenica nach diesem neuen Konzept umgebaut hat. Weitere sollen im kommenden Jahr folgen. Die kommenden Monate werden zeigen, ob das Modell von den Patienten angenommen wird und ob es tatsächlich gelingt, die Hausärzte spürbar zu entlasten oder ob die kritischen Stimmen der Ärzte recht behalten.





