Andrea Ammann litt fast zwei Jahrzehnte lang an Bulimie. Sie fand schliesslich einen Weg aus der Krankheit. Heute unterstützt sie andere betroffene Frauen dabei, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Ammanns Geschichte ist ein Beispiel für den Kampf gegen eine unsichtbare Essstörung.
Wichtige Punkte
- Andrea Ammann kämpfte 20 Jahre lang im Geheimen gegen Bulimie.
- Die Vergewaltigung im Alter von 16 Jahren war ein Auslöser für die Essstörung.
- Rund 2,4 Prozent der Frauen in der Schweiz leiden an Bulimie.
- Ammann überwand die Krankheit mit professioneller Hilfe und dem Wunsch, für ihre Kinder da zu sein.
- Sie ist heute Mentorin und bietet Online-Gruppengespräche an, um anderen Frauen zu helfen.
Das verborgene Leid
Andrea Ammann beschreibt ihre Vergangenheit als Gefangene der Bulimie. Nach aussen führte sie ein «perfektes Leben». Innerlich suchte sie jedoch nach Liebe, Anerkennung, Ruhe und Sicherheit. Heute spricht Ammann offen über ihre Erfahrungen. Sie engagiert sich für Prävention, Aufklärung und die Enttabuisierung dieser Essstörung. Das Thema liegt ihr am Herzen, da die Krankheit viele Jahre ihres Lebens bestimmt hat. Ihre engsten Mitmenschen wussten nichts davon.
Fakten zur Bulimie in der Schweiz
- Etwa 2,4 Prozent aller Frauen in der Schweiz leiden an Bulimie.
- Die Tendenz ist steigend.
- Essstörungen sind oft mit Scham und Geheimhaltung verbunden.
Die Basler Aktionstage Psychische Gesundheit lenken aktuell den Blick auf solche Erkrankungen. Oft wird darüber kaum gesprochen. Diese Aktionstage bieten Betroffenen, Angehörigen und Fachpersonen eine Plattform für Austausch. Ziel ist es, Vorurteile abzubauen, Tabus zu brechen und Wege zur Verbesserung der psychischen Widerstandsfähigkeit zu finden. Die Gesellschaft soll offener über Gefühle sprechen und Hilfe suchen können.
Ein traumatisches Ereignis als Auslöser
Andrea Ammann wuchs mit zwei Brüdern am Untersee auf. Ihre Familie schien intakt. Rückblickend sagt sie: «Meine Eltern waren mit sich selbst beschäftigt und haben sich, so gut sie konnten, um mich gekümmert.» Sie wurde früh selbstständig, war gut in der Schule und betrieb viel Sport. Die familiäre Bindung war nicht eng.
Im Alter von 16 Jahren wurde Ammann abends auf dem Nachhauseweg in einer dunklen Unterführung vergewaltigt. Dieses Erlebnis riss ihr den Boden unter den Füssen weg. Sie hatte keine Vertrauensperson. «Ich musste alleine klarkommen und habe für mich die Lösung kreiert, dass ich an allem schuld bin», erinnert sie sich.
Hintergrund: Aktionstage Psychische Gesundheit
Die Basler Aktionstage Psychische Gesundheit laufen noch bis zum 30. Oktober. Sie bieten eine interaktive Plattform für offenen Austausch. Ziel ist es, Vorurteile abzubauen, Tabus zu brechen und Brücken zu schlagen. Die Veranstaltungen informieren über psychische Gesundheit und Erkrankungen.
Sie sollen helfen, die psychische Widerstandsfähigkeit zu verbessern. Niemand soll sich scheuen müssen, über Gefühle zu sprechen und bei Bedarf Hilfe zu suchen.
Der Beginn der Essstörung
Nach der Vergewaltigung hörte Andrea Ammann fast vollständig auf zu essen. Innerhalb von drei Monaten verlor sie so viel Gewicht, dass ihre Eltern sie zu einer Ärztin und einem Psychologen schickten – alleine. Zu beiden konnte sie kein Vertrauen aufbauen. «Ich habe damals gecheckt: Um möglichst schnell aus dieser Geschichte rauszukommen, muss ich wieder zunehmen.»
Sie begann, wieder mehr zu essen. Ihr Umfeld war beruhigt. Das «Problem» schien überwunden. Niemand stellte weitere Fragen. Ammann fand eine Methode, um ihr Gewicht zu halten:
«Ich habe alle an der Nase herumgeführt, indem ich immer mehr gegessen und mich anschliessend übergeben habe. Ich wollte auf keinen Fall zunehmen und weiblich wirken.»
Andrea Ammann, Mentorin für Frauen mit Bulimie
Damals wusste sie nicht, dass es eine Essstörung namens Bulimie gibt. Sie dachte, sie hätte eine «geniale Lösung» gefunden.
Jahre im Griff der Krankheit
Andrea Ammann lebte viele Jahre mit den Essattacken und dem Erbrechen. Ihre engsten Vertrauten wussten nichts davon. «Fast 20 Jahre lang war die Bulimie meine treuste Begleiterin und mein bestgehütetes Geheimnis», sagt sie. Jeder Tag begann und endete mit der Krankheit. «90 Prozent meiner Gedanken drehten sich nur ums Essen, ums Erbrechen, ums Verstecken.»
Ihr Alltag war minutiös durchgeplant. Sie musste genau wissen, wo sie einkaufen, heimlich essen und sich unbemerkt übergeben konnte. Niemand sollte ihre Sucht erkennen. Innerlich war sie von diesen Gedanken gefangen. «Es herrschte nie Ruhe in meinem Kopf, obwohl ich neben der Essstörung 100 Prozent gearbeitet und meinen Alltag gemanagt habe.»
Der Wendepunkt und die Heilung
Heute lebt Andrea Ammann gesund mit ihrer jüngsten von drei Töchtern zusammen. Die beiden älteren Töchter sind bereits ausgezogen. Sie ist dankbar, dass sie trotz ihrer Krankheit schwanger werden konnte. «Ich habe meinen Körper über all die Jahre ständig missbraucht, das ist ein Fakt. Teilweise habe ich an einem Tag so viel gegessen und erbrochen wie eine fünfköpfige Familie in einer Woche.»
Ihre ersten beiden Töchter kamen gesund zur Welt. Während der Schwangerschaften achtete Ammann besser auf ihren Körper und hatte die Krankheit etwas besser im Griff. Doch mit zwei kleinen Kindern geriet ihr Leben aus den Fugen. Ihre Sucht brachte sie an ihre Grenzen.
«Mein Leben stand Kopf. Mein Leben mit der Bulimie war komplett durchgeplant und kontrolliert. Mit Kindern geht das nicht und ich hatte permanent Angst, dass ich auffliege.» Im Mai 2004 erreichte sie einen Tiefpunkt. Sie erkannte, dass sie so nicht weitermachen konnte. «Mir wurde klar: Entweder ich beende jetzt mein Leben oder ich verändere es.»
Folgen von Bulimie
- Körperlicher Missbrauch kann zu ernsten gesundheitlichen Problemen führen.
- Die Sucht beansprucht einen Grossteil der Gedanken und des Alltags.
- Soziale Isolation und Geheimhaltung sind typische Begleiterscheinungen.
Andrea Ammann ist überzeugt: Ohne ihre beiden Töchter hätte sie die Veränderung nicht geschafft. In ihrer Verzweiflung suchte sie einen Therapeuten auf, dem sie vertraute. «Ihm habe ich zum ersten Mal von der Vergewaltigung erzählt und meine eigene Geschichte aufgearbeitet. Vorher habe ich alles verdrängt, meine Gefühle ausgekotzt und gar nichts mehr gefühlt.»
Durch die Therapie lernte Ammann, sich selbst und ihre Gefühle wieder wahrzunehmen. Sie legte Schuldgefühle ab und begann, an sich zu glauben. Nach einigen Monaten konnte sie die Bulimie hinter sich lassen. «Ich habe wieder angefangen, einfach zu leben, zu fühlen und Dinge auszuprobieren. Und ich merkte: Je weniger ich denke und kontrolliere, umso leichter wird mein Leben.»
Hilfe für andere Betroffene
Nach ihrer Heilung machte es sich Andrea Ammann zur Aufgabe, anderen Bulimie-Betroffenen zu helfen. Sie arbeitet heute als Mentorin für Frauen mit Bulimie. Zudem hat sie eine Anlaufstelle für Betroffene und Angehörige gegründet.
Seit etwa sieben Jahren leitet sie wöchentlich zwischen vier und elf Online-Gruppengespräche. Ihr Ziel ist es, den Frauen Achtsamkeit für sich selbst zu vermitteln. Sie sollen lernen, selbst für sich und ihren Körper zu sorgen. Ammann ist überzeugt: «Das ist das A und O.» Ihr Engagement trägt dazu bei, das Tabu um Essstörungen zu brechen und einen Weg zur Genesung aufzuzeigen.




