Die Stadtbibliothek Winterthur bot kürzlich eine besondere Gelegenheit: Bei einer «Living Library» konnten Besucherinnen und Besucher persönliche Geschichten von Menschen mit Behinderungen hören. Im Fokus standen dabei die Erfahrungen von Anne (57) und Irene (60), die beide mit Multipler Sklerose (MS) leben und ihre Krankheit auf eindrückliche Weise als «Elefanten im Porzellanladen» beschrieben.
Wichtige Erkenntnisse
- Anne und Irene teilten ihre persönlichen Erfahrungen mit Multipler Sklerose in der Winterthurer Stadtbibliothek.
- Sie beschrieben MS als «Elefanten im Porzellanladen», der ihr Leben grundlegend verändert hat.
- Die beiden Frauen möchten durch ihre Offenheit Ängste vor der Krankheit abbauen und über das Leben mit MS aufklären.
- MS ist eine chronische neurologische Erkrankung, die das zentrale Nervensystem beeinflusst und sehr unterschiedliche Verläufe zeigt.
- Trotz der Herausforderungen betonen beide die Bedeutung von Lebensfreude und Anpassungsfähigkeit.
Das Bild des Elefanten: Ein treffender Vergleich
Irene, 60 Jahre alt, vergleicht Multiple Sklerose mit einem unberechenbaren Elefanten, der in ihrem Körper lebt. «Ist er wütend, richtet er dort grossen Schaden an und zerschlägt viel Geschirr», erklärte sie. Nach einem Schub muss sie sich mittels Rehabilitation erholen und die «Scherben zusammenfegen». Doch das frühere Niveau erreicht sie nicht mehr vollständig. Sie spricht davon, nach einem Schub vielleicht wieder 90 Prozent ihrer Leistungsfähigkeit zu erreichen, nach einem weiteren Schub nur noch 85 Prozent.
Anne, 57 Jahre alt, teilt dieses Bild. Ihr Elefant verhielt sich jedoch nur in den ersten 10 bis 15 Jahren ihrer Krankheit schubweise. Seitdem verschlechtert sich ihr Zustand langsam, aber stetig. Heute ist Anne Tetraplegikerin. Ihre Diagnose erhielt sie bereits vor über 40 Jahren, im Alter von 17 Jahren zeigten sich die ersten Symptome.
Multiple Sklerose: Die Krankheit mit 1000 Gesichtern
Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch fortschreitende neurologische Erkrankung. Sie betrifft das zentrale Nervensystem, wobei das körpereigene Immunsystem die Myelinschicht der Nervenzellen angreift. Dies stört die Übertragung von Nervenimpulsen. Da die Symptome und Verläufe stark variieren können, wird MS oft als «Krankheit mit den 1000 Gesichtern» bezeichnet.
Motivation und Missverständnisse
Beide Frauen engagieren sich bei der «Living Library», um der Krankheit MS ein Gesicht zu geben. Irene hofft, so den Menschen die Angst vor MS zu nehmen. «Die meisten denken bei Multipler Sklerose sofort an Rollstuhl und finden es ganz schlimm», sagte sie.
«Ich sitze im Rollstuhl und ich bin glücklich», betont Anne. Sie fügt hinzu, dass längst nicht alle MS-Patienten im Verlauf ihrer Krankheit auf einen Rollstuhl angewiesen sind. Für sie seien andere Symptome wie die Spastik in ihren Fingern viel belastender.
Irene leidet besonders unter der Fatigue, einem Erschöpfungssyndrom, das sie nach Anstrengungen heimsucht. Sie sieht den Rollstuhl pragmatisch: «Brauche ich bei einem Museumsbesuch einen Rollstuhl, ist das nicht so schlimm. Es ist mir viel wichtiger, dass ich überhaupt ins Museum kann.»
MS in der Schweiz
Nach Hochrechnungen der Schweizerischen Multipler Sklerose Gesellschaft sind in der Schweiz rund 18'000 Personen von MS betroffen. Frauen erkranken dabei deutlich häufiger als Männer.
Die Diagnose: Ein Wendepunkt im Leben
Anne erhielt ihre MS-Diagnose mit 26 Jahren, nachdem sie bereits mit 17 die ersten Symptome bemerkte. Rückblickend beschreibt sie ihr früheres Leben als eines auf der Überholspur: Sie war Spitzensportlerin, machte Karriere und zeigte grosses kulturelles Interesse. Es sei fast, als hätte sie schon früh gespürt, dass eine Krankheit in ihr schlummerte.
Irene war 41 Jahre alt, als sie die Diagnose erhielt. Ihre Kinder waren damals 9 und 12 Jahre alt. Die Familie, begeisterte Geocacher, erlebte eine tiefgreifende Veränderung der Familiendynamik. Irene gesteht, die Belastung für ihre Familie unterschätzt zu haben. Sie selbst musste Phasen der Trauer durchleben und war stark auf sich konzentriert. Im Rückblick hätte die Familie wohl externe Hilfe benötigt.
Umgang mit dem Umfeld und die Bedeutung von Mitgefühl
Anne berichtet, dass viele ihr nahestehende Menschen sie nicht anders behandeln als vor der Diagnose. Sie sehen den Menschen, nicht die Krankheit. Mit Mitleid kann sie hingegen nichts anfangen. «Mitgefühl dagegen ist in Ordnung», erklärt sie. Irene stimmt dem zu: «Ich mag es überhaupt nicht, wenn ich als bemitleidenswert angeschaut werde.»
Die Lebensfreude bewahren: Was geht noch?
Trotz der Herausforderungen haben beide Frauen gelernt, die Lebensfreude zu bewahren und neue Wege zu finden. Irene hat gelernt, ihren «Elefanten» zu akzeptieren. Sie beschreibt es so: «Manchmal erlaubt er mir, dass ich mich auf seinen Rücken setze und ich eine neue Perspektive einnehme.» Als das Velofahren nicht mehr möglich war, stieg sie auf ein Liegedreirad um. Ihre Frage ist stets: «Was kann ich?»
Anne, die früher viel gereist ist, empfindet Reisen heute als reizlos. Sie findet Freude an kleinen Dingen, wie den Schnecken auf ihrem Balkon. Ihr Interesse an Kultur ist noch wichtiger geworden. Mit ihrem Rollstuhl profitiert sie sogar von besseren Plätzen im Zürcher Opernhaus.
Gelassenheit im Alltag
Irene wünscht sich manchmal mehr Gelassenheit. Kleinigkeiten können sie immer noch nerven, und die Krankheit hat daran nichts geändert. «Es ist wohl eher eine Frage meiner Art, Dinge zu ernst zu nehmen», reflektiert sie.
Blick in die Zukunft
Für Anne ist die Lebensfreude von zentraler Bedeutung. Sollte sie diese über längere Zeit verlieren, könnte die Sterbehilfeorganisation Exit ein Thema für sie werden. Sie fragt sich jedoch, ob sie den Mut dazu hätte. Ihr Massstab habe sich im Laufe der Jahre verschoben. Hätte man ihr vor 20 Jahren ihren heutigen Zustand prophezeit, wisse sie nicht, wie sie reagiert hätte.
Irene macht sich im Zusammenhang mit ihrer Krankheit keine Gedanken über den Tod, da man an Multipler Sklerose nicht direkt stirbt. Ihre Perspektive ist auf das Leben und die Möglichkeiten ausgerichtet, die sich trotz der Krankheit bieten.





